Die Bergen- und die Flåmsbahn sind eine der schönsten Eisenbahnstrecken
der Welt und ein traumhaftes Naturerlebnis. Fast geräuschlos entfernt
sich der Zug Nr. 601 der Bergenbahn aus Oslo, rattert alsbald über eine
der langen Eisenbahnbrücken Norwegens, schnellt durch grüne Wiesen. Wir
lassen uns nach Bergen, die 470 Kilometer von Ost nach West,
davontragen. Geschäftsleute, Familien und Touristengruppen sitzen
entspannt auf den roten Stoffsitzen des stromlinienförmigen Intercity
und denken wohl keine Sekunde daran, welch ein mühseliges und
abenteuerliches Unterfangen der Bau dieser Bahnlinie vor über 100 Jahren
war. An der geplanten Strecke gab es weder Wege noch Stege, also mussten
erst Transportwege geschaffen werden.
Von 1894 bis 1909 waren 15.000 Arbeiter mit dem schwierigsten
Eisenbahnbau Europas beschäftigt. Sie gruben sich durch massiven Gneis,
bauten 300 Brücken und benötigten sechs Jahre für den 5,3 Kilometer
langen Gravhals-Tunnel — einen von rund 180 Tunneln auf der Strecke.
Seit 1964 ist die gesamte Strecke elektrifiziert. Draußen rauschen
dunkle Wälder vorbei, vor roten Holzhäusern blühen lila Dahlien, und
ganz nah türmen sich Berge auf, über die Bäche sprudelnd zu Tal stürzen.
Wiesen, Häuser, Berge bis Ål, bis unsere Bahn die Berge erklimmt. Der
Himmel kennt jetzt keine Farben mehr. Geilo, der 794 Meter hoch gelegene
Wintersportort, ist eingehüllt in eine graue Decke aus tiefen Wolken.
Nächster Haltepunkt ist Ustaoset, wo wir kurz aussteigen. Im Winter
laufen sie hier Ski, rodeln, wandern auf die eisigen Berge und bestaunen
den Prestholtskarvet, der 1855 Meter hoch über dem Ort thront. Jetzt
regnet es, die Wege sind matschig. Ustaoset, eine Handvoll Häuser und
Hütten, ist leer. Keine Menschen, nur Stille. Bald liegen wieder mehr
als drei Meter Schnee hier und das Höyfjellshotel ist voll Touristen.
Wir fahren den schimmernden Ustavatn-See entlang, wo einige Männer
angeln. Höher und höher klettert jetzt der Zug Nr. 601. Doch mit einem
Mal wellt sich das Land. Oben, nahe Finse, 1222 Meter hoch, liegt ein
See, zur Hälfte gefroren, ringsum Schnee. Wir sind auf der riesigen
Hochfläche Hardangervidda. Der Zug verschwindet im Finsetunnel, 10,6
Kilometer lang, wie die Anzeige im Abteil rot leuchtend mitteilt. Von
jetzt an fahren wir bergab, hin und wieder taucht die Bahn unter
Schutzdächern gegen den Schnee hindurch.
Wir stoppen in Myrdal. Japanische Reisegruppen warten auf Gleis 4, dort
fährt gleich die Flåmsbahn ab. Achtzehn Jahre dauerte es, bis ihre
Gleise in den Berg gelegt waren. Es gibt wahrscheinlich keine andere
Bahn der Welt, die auf 20 Kilometern eine Höhe von 864 Metern
überwindet. Ein normaler Zug, ohne Zahnräder oder andere Tricks.
Quietschend legen sich die Waggons in die Kurven und schleichen durch
die Tunnel. Der Stopp am Wasserfall Kjosfossen ist der Höhepunkt der
Hochgebirgstour. 93 Meter stürzt der Wasserfall in die Tiefe, direkt
neben dem Zug. Ein geheimnisvoller Ort. Die Flåmsbahn windet sich hinab,
wieder und wieder türmen sich Felsen bizarr übereinander, strömen
Wasserfälle. Flåm ist die Endstation für heute.
Am nächsten Morgen bringt uns die Flåmsbahn zurück zu den Gleisen der
Bergenbahn. Der Tag ist grau, die Berge sind dunkelgrün und Zug Nr. 601
rollt durch immer längere Tunnel. Bei der Ankunft in Bergen platscht
Regen auf das Kopfsteinpflaster, das uns vorbeiführt an der
Jergenskirche und über den Fischmarkt, wo es Hummer und rote Elchwurst
gibt. Wir gehen zum Hafen und mitten hinein in die alte Stadt, nach
Bryggen. Windschiefe, aber stolze hölzerne Kaufmannshäuser reihen sich
hier, einst abgebrannt, 1702 wieder aufgebaut, rot, weiß und braun
gestrichen. Hier am Vågen, dem Hafen, hatten im 14. Jahrhundert deutsche
Hansekaufleute Bryggen gegründet, das noch bis 1945 "Tyske Bryggen”
(Deutsche Brücke) hieß. Hinter den historischen Fassaden wurden kleine
Läden eröffnet, in den winzigen Seitenstraßen erhielt sich ein Hauch von
Salz, Fisch und Teer. Unmengen Wasser fallen vom Himmel. Aber wen
stört das schon in Bergen, wo es 280 Tage im Jahr regnet? Von oben
betrachtet, auf dem Fleyen, 320 Meter über der Stadt, scheint Bergen in
den Herdlafjord hinausschwimmen zu wollen. Aber die hell getünchten
Holzhäuser unten in der Altstadt, in deren Puppenstubenfenstern die
Geranien blühen, erscheinen in den Regenfluten noch geborgener und
behaglicher. |