Außerhalb Schwedens hält sich hartnäckig das
Vorurteil, dass sich alle Schweden duzen würden. Gewiss, in Schweden
ist die Anrede mit du und Vornamen am verbreitetsten, ohne
jedoch die einzig übliche Anredeform zu sein. Weshalb die pronominale Anrede mit du (seit jeher weniger
problematisch bei der Mehrzahl ni (ihr) in den letzten
Jahrzehnten so populär geworden ist, hängt mit verschiedenen Faktoren
zusammen. Ein Faktor war sicher, dass es eine allgemein übliche und neutrale
Sie-Anredeform nicht (oder nicht mehr) gibt. Der tiefere Grund für diese etwas seltsam anmutenden Versuche ist
darin zu suchen, dass noch bis weit in unser Jahrhundert hinein eine
direkte pronominale Anrede einer unbekannten oder höher stehenden
Person als unhöflich galt. Man konnte also nur die nominale Anrede
verwenden, z.B. einen Titel, eine Funktion oder einen Rang (wie
doktor, direktor etc.), oder musste
zusehen, eine direkte Anrede des Gegenübers zu vermeiden, etwa durch
die Verwendung einer Passivkonstruktion. So fragte also der Ober in
einem Cafe lieber Vad önskas? (Was wird gewünscht?), als
dass er einen Gast etwa mit Ni oder gar mit du
angeredet hätte. Denn Ni als pronominale Form der Anrede war nur von ‚oben
nach unten’ in der gesellschaftlichen Hierarchie möglich. Aus
demselben Grund war es auch nicht zwischen Gleichgestellten,
miteinander aber nicht näher bekannten Personen zu verwenden. Es
wirkte unhöflich, distanziert und bisweilen deplaziert. So kam es auch
schon früh zwischen Leuten, die sich nicht schon von vorneherein
duzten (wie etwa die Landbevölkerung oder die Arbeiterschaft) dazu,
dass man bestrebt war, so schnell wie es der Anstand und der Grad der
Vertrautheit es zuließen, die formelle nominale Anrede, die "Titel",
abzulegen. Dies ist der eine Grund. Der andere hängt mehr mit der Staats- und
Gesellschaftsauffassung der schwedischen Sozialdemokratie zusammen,
die seit 1932 Schweden quasi als Staatspartei (mit Unterbrechungen)
prägt. Zusammen mit ihrer Verankerung in der Arbeiterschaft und der
Gewerkschaftsbewegung, wo man sich schon immer duzte, wurde das Du zur
ideologisch favorisierten Anredeform im schwedischen Staat, der sich
als "Volksheim" verstanden wissen wollte und in dem alles demokratisch
und ohne Anklänge von Obrigkeit bei der Anrede voll Funktionsträgern
bis hinauf zum Ministerpräsidenten vonstatten gehen sollte. Das Du
wurde so allmählich vom Anredepronomen der Arbeiterklasse zur üblichen
pronominalen Anrede in und zwischen allen sozialen Schichten. Dennoch sind, wie im Englischen, Differenzierungen bei der
nominalen Anrede möglich, wie etwa die Verwendung einer
Funktionsbezeichnung oder der Gebrauch des Nachnamens bzw. des vollen
Namens. Ist man sich aber unsicher, ob das Du nicht doch zu plump
vertraulich und damit etwas respektlos oder zu direkt z.B. bei älteren
Leuten oder hierarchisch Höhergestellten (z.B. Professoren oder
Direktoren) wirkt, versucht man, soweit und solange es irgend geht,
die Anrede ganz zu vermeiden. Ähnliches findet man auch in Briefen, wo
das direkte und so zu vertraulich wirkende Du bei kaum bekanntem
Adressaten tunlichst gemieden wird. Das Schwedische hält hierzu eine Fülle von Ausweichmöglichkeiten
bereit, von dem bereits erwähnten Passiv ohne Agensnennung bis hin zu
unpersönlichen Konstruktionen wie Gär det att ... (Geht es,
dass ...) u. dgl. Schlagwortartig zusammengefasst, könnte man sagen, dass sich die
ursprüngliche solidarische Anrede unter Gleichen, die Anrede mit du,
unter dem Einfluss einer Staatsideologie so weit verbreitet hat, dass
sie zunehmend als neutrale Form empfunden wird. Das Vermeiden
umständlicher Anredekonventionen mit Titeln und dgl. hat diese
Entwicklung begünstigt und verstärkt. Soziale Differenzierungen sind
nur noch über die nominalen Anredeformen möglich. Kurz gesagt, man
‚duzt’ sich, ohne dabei vertraulich zu werden – was einen gravierenden
Unterschied zu den meisten Gebrauchsformen des dt. du
darstellt. Der Bereich des schwedischen du reicht also weit in
den Bereich des deutschen Sie hinein. Im übrigen ist von einer
interkulturellen Übertragung dieser schwedischen Anredekonvention ins
Deutsche zu warnen. Denn sonst entstünde der (falsche) Eindruck, dass
man in Schweden fast nur Duzfreunde hat!
In enger Anlehnung an "Die skandinavischen Sprachen im Überblick"
Mit freundlicher Genehmigung von Prof. Dr. Kurt Braunmüller
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