Lebendes Watt

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Die West-, Ost-, und Nordfriesischen Inseln liegen im Wattenmeer. Das ist jene große Schlick- und Sandfläche, die sich in wechselnder Breite von 10 bis 20 Kilometern vor der niederländischen, deutschen und dänischen Nordseeküste ausbreitet. Diese im Gezeitenbereich gelegene, aus Sedimenten aufgebaute amphibische Landschaft zwischen den grünen, deichgeschützten Marschen des Festlandes und den Inseln, den Fahrrinnen und den Tiefen des offenen Meeres erscheint bei Niedrigwasser als eine glitzernde, glänzende oder graue, eintönige Fläche — je nach Lichteinfall und Wetter. Wer sie jedoch betritt — und das tun viele Besucher der Nordseeküste, erkennt in ihr alsbald eine Landschaft von großer Vielgestaltigkeit und Formenfülle. Vergleichbar den Flusssystemen des Festlandes gliedern große und kleine Wasserläufe (Priele) die Schlick- und Sandflächen. Vielfältig geprägt ist auch die Oberfläche des Watts. Wasser, Eis, Wind und Tiere schaffen auf ihr eine Fülle von Kleinformen, von denen die Rippelmarken die auffälligsten sind.
Doch die Groß- und Kleinformen dieser Landschaft sind nicht beständig. Die Dynamik des Watts ist so stark, dass sie sich in Wochen, Tagen, Stunden, ja in Minuten wandeln können. Das Kräftespiel der Gezeiten, der Strömungen, der Brandungen und der Winde verändert das Bild der Landschaft so sehr, dass es keine Seekarte für längere Zeit festhalten und niemand sagen kann, er kenne das Watt genau.
Der Wandel, die ewige Unruhe machen das Watt zu einem Raum mit extrem schwierigen Lebensbedingungen. Tiere und Pflanzen, die hier leben, sind dem ständigen Wechsel von Wasserbedeckung und Trockenliegezeit ausgesetzt, der mechanischen Kraft von Strömung, Brandung und Wind, dem wechselnden Salzgehalt des Wassers, schwierigen Sauerstoffverhältnissen, der ungehinderten Sonneneinstrahlung bei Niedrigwasser und dem Ausfrieren des Wattbodens im Winter. Morphologische und physiologische Angepasstheit ermöglichen es dennoch einer ganzen Reihe von Organismen, unter den extremen Bedingungen dieser amphibischen Landschaft zu leben.
Diesem ökologischen Phänomen wollen wir auf einer Wattwanderung nachgehen, indem wir den Wattboden ein wenig genauer betrachten als es gemeinhin geschieht. Der Schlick lebt wirklich. Würmer, Muscheln, Schnecken und Krebse bilden die Masse seiner Bewohner.
An stillen Tagen hören wir feine, wispernde, knisternde Laute, das "Wattengeräusch". Es wird vom Schlickkrebs verursacht, der in einem U-förmigen, schleimverfestigten Gang dicht unter der Oberfläche stellenweise in ungeheurer Zahl lebt (5000 bis 20.000 Tiere auf einem Quadratmeter). Ein Wasserhäutchen zwischen seinen langen Fühlern platzt, wenn er diese spreizt: Das gibt ein leises "Klick", das sich — 10.000fach und 100.000fach verstärkt — zum "Wattengeräusch" verdichtet. Oft verlässt der Krebs seinen Wohnbau und kriecht auf dem Wattboden umher. Dort erzeugt er sternförmige Fraßspuren, die denen des Seeringelwurms ähnlich sind. Der Schlickkrebs kratzt sich auch oft von der Oberfläche Nahrung in die Röhre. Kleinste Einzeller, Würmer und Krebse sowie Algen (Mikrobiotika). Auch Detritus – kleine und kleinste zerriebene Teile von tierischen und pflanzlichen Lebewesen des Wassers – steht auf seinem Speisezettel. Mikrobiotika und Detritus bilden auch die Nahrung vieler anderer Schlickbewohner.
Viel auffälliger als die Sternmuster des Schlickkrebses sind die Kothäufchen des Wattwurms - auch auch Sandwurm, Pierwurm oder Prielwurm genannt. In einem solchen Pierwurm-Watt, das sich über Hunderte und Tausende von Quadratmetern hinzieht, gewinnt man angesichts der unzähligen auffälligen Oberflächenformen seines Sedimentbewohners einen besonders nachhaltigen Eindruck von der Individuenfülle des Wattbodens. Die Siedlungsdichte beträgt 40 bis 50 Tiere je Quadratmeter. Unter einem Hektar können demnach 400.000 bis 500.000 Tiere leben, unter einem Quadratkilometer 40 - 50 Millionen. Zu einem Kothäufchen gehört jeweils ein kleiner Trichter. Graben wir mit einem Spaten nach, finden wir den rötlichen, 10 bis 20 Zentimeter langen, kiemen- und borstenbesetzten Wurm, der in einem schleimverfestigten Wohnbau haust. Wir behalten einige Quadratmeter Pierwurm-Watt im Blick und sehen mehrfach, wie die Kothäufchen sich durch das Herausquellen kleiner Schlicksandstränge vergrößern, die sich herausschieben wie Zahnpasta aus der Tube.
Ähnlich wie der Regenwurm die Ackererde frisst, lässt der Wattwurm den Sandschlick durch seinen Darm wandern. Sein L-förmiger Wohnbau beginnt unter dem Kothäufchen. Von dort führt der "Kotgang" 15 bis 20 Zentimeter senkrecht nach unten, knickt dann ab und verläuft ein Stück waagerecht, um blind zu enden. An dieses blinde Ende schließt sich der "Sandstrang", der senkrecht nach oben führt und unter dem Trichter endet. Der Wurm liegt in dem waagerechten Teil, dem "Wohngang", und ragt mit dem Schwanzende in den senkrechten Kotgang hinein. Er frisst am blinden Ende des Wohnganges den Sand, der von der Oberfläche in die Tiefe nachrutscht und so den Trichter entstehen lässt. Das Unverdauliche wird ausgeschieden. Etwa alle 45 Minuten steigt der Wurm in den Kotgang empor und scheidet Kot aus. Alle Wattwürmer zusammen verschlingen einmal im Jahr etwa die oberen 20 Zentimeter des Watts. Dadurch belüften sie den Boden und schaffen so gute Bedingungen für andere Lebewesen. Durch entsprechende Kontraktion seines Körpers treibt das Tier einen Wasserstrom vom Kothaufen her durch das Gangsystem. Dieser tritt am Ende des Sandstranges durch den Trichter wieder aus. Der Wasserstrom bringt dem Wurm zusätzliche Nahrung, die am Anfang des Sandstranges im Boden abgefiltert und dort von dem Tier zusammen mit dem Sand aufgenommen wird. Durch die Tiefe seines Wohnbaues ist der Wattwurm vor Feinden weitgehend geschützt. Der Austernfischer jedoch kann ihn mit seinem langen Schnabel aus dem Wohngang herauszerren.
Wie aber ist dieser Wurm in seiner Atmung an den extremen Lebensraum angepasst? Der Wattwurm ist ein Wassertier, atmet also durch Kiemen, dennoch muss er – wie viele andere Kiemenatmer des Wattbodens – im Rhythmus der Gezeiten täglich zweimal vier bis sechs Stunden ohne Wasser fertig werden. Man hat herausgefunden, dass beim Wattwurm die Bindungsfähigkeit des Blutfarbstoffes Hämoglobin zum Sauerstoff besonders groß ist, größer als bei den meisten anderen Tieren, auch den Wirbeltieren. Der Wattwurm vermag also während der Wasserbedeckung Sauerstoff zu speichern (er erscheint dann zeitweilig leuchtend rot). In der Trockenliegezeit kann er ihn wieder freisetzen. Offenbar erfolgt auch eine zusätzliche Sauerstoffaufnahme durch die gesamte Körperoberfläche. Außerdem treibt der Wurm während der wasserlosen Zeit Luftblasen über seine Kiemen, denen er wohl zusätzlich Sauerstoff entnehmen kann.
Die meisten Muscheln, deren Schalen wir am Flutsaum der Inseln zu Tausenden finden, leben ebenfalls im Wattboden. Die Sandklaffmuschel steckt in einer Tiefe von 15 bis 25 Zentimetern. Diese Tiefe schützt sie bei Ebbe vor der Austrocknung, bei Flut vor dem Fortgespült werden. Lebensnotwendig für die Muschel ist die Verbindung zur Oberfläche des Wattbodens und damit zum freien Wasser. Ein Rohr, ein Sipho, der praktisch eine verlängerte Mundöffnung ist, stellt diese Verbindung her. Durch den Sipho strudelt die Muschel mittels einer großen Zahl von Flimmerhärchen auf den Kiemen einen Wasserstrom durch ihren Körper. Diesem entnimmt sie den Sauerstoff zur Atmung und die Kleinlebewesen sowie den Detritus als Nahrungsstoffe. Die Trockenliegezeit des Watts übersteht sie mit einem kleinen Vorrat an Atemwasser in den Siphonen. Im Watt vor uns aufspritzende kleine Fontänen (aus sich plötzlich zusammenziehenden Siphonen) sind sichere Kennzeichen der Besiedlung durch die Sandklaffmuschel. Je nach Größe beträgt die Siedlungsdichte 30 bis 150 Muscheln je Quadratmeter.
Dicht unter der Oberfläche lebt bis zu drei Zentimeter tief die Herzmuschel (wir können ihre Schalen unter den bloßen Füßen spüren), etwas tiefer sitzt die Plattmuschel und zwischen dieser und der Sandklaffmuschel lebt die Pfeffermuschel. Die vier Muschelarten wohnen sozusagen in vier verschiedenen Stockwerken und machen sich keine Platzkonkurrenz. Alle vier Arten sind durch Siphonen mit dem lebenspendenden Wasser verbunden.
Manche Schlickbewohner sind ihre eigenen Baumeister – sie bauen sich sehr kunstvolle Röhren. Der Köcherwurm benutzt dazu Sandkörner, die er zu zigarettenspitzenähnlichen Röhren zusammenklebt. Man findet diese Gebilde häufig im Flutsaum zusammengedriftet. Der Bäumchenröhrenwurm verbaut außer Sandpartikelchen Muschelstücke, Seeigelstacheln, winzige Schneckengehäuse und andere Hartkörper, die er mit Schleim aneinanderkittet. Diese Würmer leben in großer Zahl vor allem weit draußen an der Niedrigwasserlinie. Mit seiner biegsamen Schleimröhre steckt der Wurm zu drei Vierteln im Boden. Aus dem Watt aufragend, baut er eine baumartig verzweigte Reuse, die "Fransenkrone". Zwischen den Verästelungen spannt er zudem Schleimfäden und Schleimhäutchen aus. In dieser Reuse fangen sich die mit der Strömung herangeführten Nahrungspartikelchen.
Zu den Weidetieren gehören außer dem Seeringelwurm die Strandschnecke und die Wattschnecke, die sich in riesigen Mengen im Schlick verbirgt. Auf dem Wattboden weiden beide Arten den Algenbelag ab. Die Strandschnecke besiedelt auch in großer Zahl zusammen mit Seesternen und Seepocken die auf dem Schlickboden emporgewachsenen Miesmuschelbänke mit Zehntausenden blauer Miesmuscheln.
Trotz dem Angepasstsein der Tiere an ihren schwierigen Lebensraum, kommt es auch im Watt zu Katastrophen. Davon zeugen sowohl die Schalen der toten Muscheln am Strand als auch die Muschelfelder (Schillbänke) im Watt, wo Millionen Schalen zusammengetrieben und abgelagert wurden. Freigespülte Muscheln in Lebendstellung finden wir auch an Prielrändern, wo der Boden angeschnitten wurde. All diese Schalen stammen von Muscheln, denen der Lebensraum im Wattboden zerstört wurde. Entweder wurden sie ausgespült oder sie gerieten durch Aufschlickung so tief in den Boden, dass die Siphonen nicht mehr lang genug waren, um bis an die Oberfläche zu reichen. Die Muscheln mussten verhungern und ersticken. Irgendwann wird dann dies unterirdische "Leichenfeld" freigespült. Die Klappen werden an die Strände, auf die Sandplaten der Inseln getrieben und in flachen Deltamündungen der Priele, an deren Gleithängen und sonst irgendwo auf dem Sand im Stromschatten zu weithin leuchtenden Schillbänken zusammengedriftet.
Es ist beglückend zu wissen, dass weder solche Katastrophen noch die vielen Fressfeinde, wie Möwen und Watvögel, die Wattbewohner ernstlich dezimieren können. In der ungestörten Natur werden die Verluste stets ausgeglichen. Das ist bei den großen Individuenzahlen im amphibischen Lebensraum Watt kein Problem.
Dennoch droht auch diesem Lebensraum und seinen Bewohnern von ganz anderer Seite Gefahr. Die Gefährdung der Küstenmeere durch vom Menschen verursachte Verschmutzung und Vergiftung wird immer stärker. Die Gefahr ist jedoch längst erkannt, und Wissenschaftler haben sich auf internationaler Ebene zusammengeschlossen und überzeugend dargelegt, wie notwendig die Gesunderhaltung des Küstenmeeres für uns alle ist.

 

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