Natürlich hat Nordrhein-Westfalen wunderschöne Schlösser, Wasserburgen, Museen
oder Theater, die dem klassischen Kulturverständnis entsprechen, aber wer hat
darüber hinaus schon eine so reichhaltige Industriekultur? Kaum etwas
verdeutlicht den wirtschaftlichen, ökologischen, aber auch kulturellen Wandel
Nordrhein-Westfalens und insbesondere des Ruhrgebiets so anschaulich wie die
Internationale Bauausstellung (IBA) Emscher Park. Im Schaukasten des
Strukturwandels wurden der hoch belastete Industrieraum der Emscher-Region
renaturiert, Wohngebiete lebenswerter gemacht und alte Industrie-Ruinen zu
kulturellen Treffpunkten aufgewertet. 1988 hat die Landesregierung das
ehrgeizige Projekt einer Region im Wandel beschlossen. In der zehnjährigen
Laufzeit von 1989 bis zum Finale 1999 investierte die IBA GmbH in Gelsenkirchen
für rund 120 Einzelprojekte fünf Milliarden Mark. Jedes Projekt kann heute für sich selbst betrachtet
werden. Aber zusammen ergehen sie eine Blaupause für den ökologischen,
ökonomischen und kulturellen Umbau einer altindustriellen Region.
Berg-, Stahl- und Hüttenwerke hat das Ruhrgebiet zur Genüge. Mit ihrer Stilllegung sind
in vielen Städten ungenutzte Lücken entstanden, die sich in der ganzen Region
auf etwa 530 km² summieren. Die IBA hat in 22 Projekten unter dem Leitthema
'Arbeiten im Park' ehemalige Industriebrachen wieder zum Leben erweckt. In den
renovierten alten Gemäuern, die teilweise architektonisch überaus sehenswert
sind, siedeln sich seither Gewerbe- und Dienstleistungsparks sowie Gründer- und
Technologiezentren an. So in der Lohnhalle der ehemaligen Zeche Arenberg bei
Bottrop. Und so auch in der Zeche Zollverein in Essen, deren Kesselhaus von
Reichtagsarchitekt Sir Norman Foster 1997 zum Design-Zentrum NRW umgebaut wurde.
Vorgabe bei den Projekten war auch ein für die Allgemeinheit zugänglicher
50%iger Grünflächenanteil der Anlagen. Die Projekte verdienen den Namen Arbeiten
im Park mit vollem Recht. Sichtbarster Ausdruck der IBA ist aber die Route
der Industriekultur. Denn im 'Tal der Könige', so der Titel eines Reiseführers
durch das Ruhrgebiet, finden sich einige absolut faszinierende
Industriedenkmäler. Das moderne Revier bekennt sich stolz zu seiner
Vergangenheit: 150 Jahre Industrialisierung haben ihre Zeichen in der Region
hinterlassen: gigantische Zechenanlagen, Hochöfen und Fördertürme, imposante
Relikte einer vergangenen Zeit. Heute sind die Bauten architektonische Zeugnisse
und erklären die Geschichte der Region. Sie sind weithin sichtbar und bilden
Landmarken, Orientierungspunkte für die Menschen in der Region und damit ein
Stück Identifikation. Sie abzureißen, hieße die Region zu berauben, so ist auf
den Internet-Seiten der IBA zu lesen. Dank der IBA wurden viele der
Industrie-Saurier nicht abgerissen, obwohl dies bereits geplant war.
Beispielsweise der Gasometer in Oberhausen. Auch sein Ende schien besiegelt,
doch 1999 lockte die Fässerinstallation der 'Reichstagsverhüller' Jeanne-Claude
und Christo das Publikum ins Rund. Von der begehbaren Aussichtsplattform des 117
m hohen Rundbaus kann man nicht nur wohlwollend oder abschätzig, je nach
Gemütslage, auf die darunter liegende Shopping-Mall des CentrO blicken, man hat
gleichsam das halbe Ruhrgebiet im Blick. Andererseits gelingt diese spezielle
NRW-Vergangenheitsbewältigung nicht überall. Bei Krupp/Hoesch in Dortmund wurden
Teile des Werkes auseinandergeschraubt, um in China wieder zusammengesetzt zu
werden. Der Konzern zahlte sogar noch für diesen architektur-chirurgischen
Einschnitt, denn er ist billiger als Abriss oder Instandhaltung.
Neben dem Gasometer gibt es noch 18 weitere Ankerpunkte von herausragender
industriegeschichtlicher Bedeutung. Das Bild vom nächtlich bunt erleuchteten
ehemaligen Hüttenwerk Duisburg-Meiderich ging zum Start des IBA-Finales
bundesweit durch die Presse. Andere Beispiele sind die fast 9.000 m² große
Jahrhunderthalle in Bochum, die von einer Gebläsehalle für Hochöfen zum
multifunktionalen Veranstaltungsort umgewandelt wurde, oder das alte
Schiffshebewerk Henrichenburg. Das ist aber längst noch nicht alles. Die Route
führt zu sechs technik- und sozialgeschichtlichen Museen, wie dem Bergbaumuseum
in Bochum. Sie geleitet zu zwölf der sehenswerten und für das Ruhrgebiet so
typischen Arbeitersiedlungen. Und sie verschafft den Industrietouristen an neun
Panorama-Standorten einen Ausblick, wie bei dem bereits erwähnten Tetraeder in
Bottrop. Insgesamt 24 Themenrouten weisen den Weg zur industriellen
Schnitzeljagd durch das moderne Revier. 2017 unterzeichneten das Land
Nordrhein-Westfalen und der Regionalverband Ruhr (RVR) einen Vertrag zur
Förderung der Route der Industriekultur und des Emscher Landschaftsparks von
insgesamt 120 Millionen Euro in den kommenden zehn Jahren. Diese positiven Entwicklungen
mögen zwar für die kulturelle Nahversorgung gelten, dürfte
aber für die überregionale Ausstrahlungskraft nicht ausreichend sein. Denn kaum
ein Kulturtourist reist so selbstverständlich ins Ruhrgebiet, wie etwa nach
München, Mailand, Paris, Hamburg, Berlin oder London. Die Defizite in der
Landschaftsqualität, im Städtebau und in der Architektur sind offenkundig.
Hier hilft nur, wenn man über eine lange Zeit hinweg Freiräume wirklich schützt
und zu einer attraktiven Landschaft entwickelt, und wenn man dabei die große
Industriekultur der Region als Chance begreift und bei dem wenigen, was in
Zukunft noch gebaut wird, ohne Kompromisse auf Architekturqualität setzt. Nach
all den Krisen, die sich in Nordrhein-Westfalen durch Kohle und Stahl ergeben
haben, hat das Land zumindest Frieden geschlossen mit seinen industriellen
Erbschaften. Aufbruch statt Abbruch heißt jetzt die Devise.
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